Der falsche Freund
Franz Ranzinger war mehr als 30 Jahre vom Alkohol abhängig − Er schafft den Absprung und gründet eine Selbsthilfegruppe
Deggendorf. Der adrett gekleidete Herr mit den grau melierten Haaren und der schlichten Brille wirkt offen und selbstbewusst. Ein Mann, der sagt, was er will − der mit beiden Beinen im Leben steht.
Aber auch ein sensibler Mann, der Gefühle zeigt, redet, wenn ihn etwas belastet. Doch Franz Ranzinger war nicht immer dieser Mann. Denn jahrelang wurde er beherrscht und kontrolliert – vom Bier. Der Alkohol ergriff schleichend Besitz von dem heute 57-Jährigen. „Ich bin mit dem Bier aufgewachsen", sagt er mit Nachdruck in der Stimme. Nüchtern erzählt er seine Geschichte, ruhig und ausgeglichen. Ohne große Gefühlsausbrüche, ohne große Gesten, manchmal aber mit einem Lächeln im Gesicht.
Seine ersten Räusche hat Franz Ranzinger bereits als Schulbub. Seine Mutter arbeitet in Wirtshäusern, der Vater stirbt früh. Der Stammtisch wird die zweite Heimat, die älteren Männer des Dorfes sind für ihn eine Art Vaterersatz. Der Jugendliche sucht nach Anerkennung, nach Liebe. Die glaubt er im Wirtshaus bei einem Bier zu finden. Die Gefahr des Alkohols sieht in den 60er Jahren noch niemand. Ging ein Mann nach zwei Gläsern Bier nach Hause, galt er am Stammtisch als Weichling.
Mit 43 Jahren schafft er den Ausstieg. Er gewinnt Abstand, krempelt sein Leben um. Er trennt sich von seiner Freundin, sucht sich eine eigene Wohnung – und nimmt sein Leben in die Hand. „Ich habe endlich zu mir selber gefunden", sagt er. „Davor hat der Alkohol mein Leben kontrolliert." Er habe immer das gemacht, was andere ihm gesagt haben. Er sei wie ein Kiesel im Fluss gewesen, habe sich allmählich dem Strom angepasst. Als Abhängiger sei er immer den Weg des geringsten Widerstands gegangen.
Seit 14 Jahren ist Franz Ranzinger trocken. Er hat geheiratet, den Führerschein gemacht. Seine alten Freunde haben sich wieder ihm zugewandt. „Sie haben gesagt, sie könnten endlich wieder mit mir reden", erzählt er. Doch Franz Ranzinger hat auch gesundheitliche Schäden davongetragen: Seine Adern sind zu, er hat Cholesterin-Probleme und geschwollene Füße. Rückfällig geworden ist Franz Ranzinger nicht mehr.
Doch vor wenigen Wochen kam er unerwartet in Versuchung. Ein Mann hat ihm bei einer Feier eine Maß Bier hingehalten. „Ich habe nur genippt und bin dann erschrocken", sagt er. „Der Alkohol würde alles kaputt machen, ich würde wieder alles aufs Spiel setzen." Deswegen verzichtet der 57-Jährige auf alles, das auch nur die kleinste Menge an Alkohol enthält: Pralinen, Marzipan, Essig, aber auch Orangensaft, der, wenn er gärt, Alkohol bildet. „Wenn ich den Absprung nicht geschafft hätte, würde ich heute nicht mehr leben", ist er überzeugt. Seine Augen sprühen wieder vor Lebensfreude. 2001 gründet Franz Ranzinger die Selbsthilfegruppe „Die Gruppe".Die Sucht sei nicht umsonst gewesen. Er könne anderen mit seinen Erfahrungen helfen, sie zum Nachdenken bringen.
Franz Ranzinger geht offen mit der Sucht um, erzählt es allen – und klärt auch in Schulen auf. Man müsse ehrlich zu sich selber und den anderen sein. Die Gesellschaft wolle aber nicht immer eine Aufklärung, beklagt er. Die Sauberkeitspolitik der Regierung sei scheinheilig. „Im Sport werben sie mit Anti-Drogen-Kampagnen, vor jedem Fußballspiel im Fernsehen aber mit Bier." Auch heute gingen die jungen Leute leichtfertig mit Alkohol um, sagt er. „Die Flat-Rate-Partys finde ich unverantwortlich, da bekomme ich richtig Angst." Denn das könne für manchen schon der Einstieg sein.
Hass gegenüber dem Alkohol empfindet Franz Ranzinger heute allerdings nicht. „Ich verurteile ihn nicht, er ist nicht mein Feind, er gehörte einfach zu meinem Leben", sagt er und fügt nach einer kurzen Pause hinzu. „Nur heute weiß ich, dass er mir nicht gut tut."
„Mir war damals nie bewusst, dass ich vom Alkohol abhängig werden könnte", sagt der 57-Jährige. Franz Ranzinger schlittert immer mehr in die Sucht. Die erhoffte Wertschätzung findet er nicht. Im Gegenteil. Im Freundeskreis, bei jungen Frauen stößt er zunehmend auf Ablehnung. Trost sucht er immer wieder im Alkohol. Mit diesem betäubt er auch sein schlechtes Gewissen, das er nach seinen Ausfällen hat. „Ich hatte fast bei jedem Vollrausch einen Filmriss", erinnert er sich. „Ich wusste nicht, wie ich nach Hause gekommen oder in manchem Bett gelandet bin."
Er kann keinen Tag mehr ohne den Alkohol leben. Schnaps trinkt er zwar kaum, aber 20 bis 25 Flaschen Bier sind für ihn keine Seltenheit. Seine Freundin, die 20 Jahre älter ist als er, toleriert den Alkohol. Dass er täglich Alkohol im Blut hat, merkt aber niemand. Franz Ranziger lallt nicht, hat nach außen so gut wie keine Ausfallerscheinungen und geht jeden Tag zur Arbeit. Nur bei extremem Konsum gerät er außer Kontrolle. „Als Alkoholiker stellen sich die Leute immer einen Mann mit einer Rotweinflasche an einem Brunnen vor", sagt er. „Das ist aber nicht so, denn die Abhängigen fallen im Alltag kaum auf." Dennoch: Innerlich fühlt er sich vom Alkohol zerfressen.
Den Absprung schafft er aber nicht. „Ich bin in der Kirche auf die Knie gefallen, habe Gott angefleht", erzählt er. Auch bei den Ärzten sucht er Hilfe – doch sie geben ihm nur Infusionen. „Die Ärzte beschäftigen sich während des Studiums gerade mal zwei Stunden mit dem Thema Sucht." Etliche Male geht er am Gesundheitsamt vorbei, wagt nicht den ersten Schritt. Doch dann findet Franz Ranzinger einen Arzt, der ihn zu einer Therapie schickt. Auch Arbeitgeber, Familie und Freundeskreis unterstützen ihn. Er ist für 16 Wochen in einer Klinik in Bad Neustadt an der Saale. „Erst dort habe ich kapiert, dass ich Alkoholiker bin." Der 57-Jährige, dessen Mundwinkel Lachfalten umspielen, wird ernst. Nachdenklich blickt er aus dem Fenster.